Es ist eine traurige und emotionale Geschichte, die den erfolgreichen Architekten aus Zürich dazu bewog, seinen Lebensplan in neue Bahnen zu lenken und das Geschehene hinter sich zu lassen. Was auf den ersten Blick vielleicht wie eine Flucht aussehen mag, ist schlussendlich doch mehr ein Weg zurück zu den Wurzeln seiner Leidenschaft.
Text & Bilder: Markus Mallaun
Phil steht eigentlich mit beiden Füssen gut geerdet im Leben. Der 43 jährige ist in Zürich aufgewachsen und gross geworden. Gross sind auch seine Bau-Projekte, die er betreut. Sehr gross sogar. Wir treffen Phil auf seiner Baustelle, gleich neben dem Prime-Tower, dem grössten Bauwerk Zürichs.
Ehrfürchtig kucken wir nach oben und passieren mit unseren Badges die Eingangskontrolle neben dem mächtigen Baukran, als ob wir den Tresorbereich einer Bank besteigen. „Ein weiteres 100 Millionen-Projekt“, erzählt er uns fast schon lapidar. Heute bringe ihn so ein Bau nicht mehr aus der Ruhe – offenbar ist das nicht sein erster grosser Moloch. Dies mag daran liegen, dass er sich gut in die Wünsche und Vorstellungen von institutionellen Bauherren hineinzuversetzen mag. „Einfamilienhäusschen bauen liegt mir weniger. Da gehts mir zu fest um geschmäcklerische Aspekte“. Viel lieber befasst er sich mit ökonomischen Überlegungen im grossen Stil, bis hin zu Planungsfragen, welche die Gestaltung ganzer Stadtquartiere beeinflussen können. Es ist das grosse Ganze, was ihm den gewissen Reiz verschafft.
„Du musst das Wasser lesen können, um es zu verstehen“
Fischen als grosse Passion
Um das grosse Ganze geht es auch, wenn er uns von seiner zweiten grossen Leidenschaft – dem Fischen erzählt. Nicht der einzelne Fisch zählt für ihn, sondern das Gesamtpaket Fisch, Ökosystem, Mensch, Natur. Das Fischen ist für Phil deshalb auch weit mehr als ein reines Hobby. Es ist für ihn Passion und Lebensphilosophie in Einem. Dies zeigt sich schnell, wenn ihm Sätze über die Lippen kommen wie: „Du musst das Wasser lesen können, um es zu verstehen“. Was sich für den Laien anhört wie die Begrüssungsrede zu einem Esoteriker-Seminar, hat durchaus berechtigte Gründe. Denn für Phil hat das Fischen längst nichts mehr mit dem simplen Würmchen-Baden aus seinen Anfängen in der Jugendzeit zu tun.
Die erfolgreiche Jagd nach einem kapitalen Fang ist für ihn längst zu einer kleinen Obsession geworden. Wer schon einmal selbst gefischt hat weiss, dass man nicht einfach an einer beliebigen Stelle einen glibberigen Köder auswerfen kann, um kurz darauf eine Forellen-Trophäe in die Luft strecken zu können. „Die Fische beissen heute einfach nicht“, hört man oft auch von den alten Hasen der Fischerzunft. Mit bleiernen Füssen, tropfender Nase und klammen Fingern steht man oft stundenlang am Ufer und versucht sich vorzustellen, was in diesem kleinen Fischhirn abgehen mag, wenn ihn der Hunger packt.
Und genau hier liegt für Phil das Geheimnis eines erfolgreichen Fischertags begraben. Zu verstehen, wann und warum ein Fisch sich wie in seinem Habitat bewegt, um sich seine nächste Malzeit einzuverleiben – möglichst in Form seines ausgeworfenen Köders. Man muss wissen, dass sich Phil primär mit dem Fliegenfischen beschäftigt. Das Fliegenfischen ist sowas wie eine eigene Disziplin und wird unter Fischern oft als Krönung des Fischersports bezeichnet – quasi die Formel1 der Würmchenbader. Nicht selten werden die Köder in filigraner Handarbeit vom Fischer selbst hergestellt. Es geht darum, die Natur nachzuahmen und den Fisch auf möglichst effiziente Art zu überlisten. Die selbst gemachten Köder ähneln Fliegen oder andern Kleintieren, welchen den Fischen am jeweiligen Gewässer als natürliche Nahrung dienen. Stundenlang verbringen passionierte Fischer wie Phil damit, das natürliche Umfeld des Fischs, sein Fressverhalten und seinen Speiseplan zu studieren, um ihn dann mit den selbst gemachten Futterattrappen zu überlisten. Nur wer sich voll und ganz auf die Natur einlässt und dieses Spiel richtig versteht, wird am Ende des Tages erfolgreich sein, und die meist sehr scheuen Tiere überlisten können.
Der falsche Köder
Um so schmerzhafter muss es für Phil gewesen sein, als ihn sein privates Glück im Stich gelassen und ihn auf den Boden der Realität zurückgebracht hat. Für einmal war er nicht in der Lage, mit all seiner Vorstellungskraft und Imagination in das Denkmuster seiner ehemaligen Partnerin einzutauchen. Erst langsam begriff er, welche Dramatik sich anbahnte und welchen Köder sie für ihn ausgelegt hatte. Er, der doch so feinfühlig alles in seinem Umfeld studiert und analysiert, um daraus seine Schlüsse zu ziehen. Die langjährige Beziehung stand auf dem Prüfstand. Kommt öfters vor auf dieser Welt, möchte man meinen. Wäre da nicht noch ein Kind im Spiel gewesen, dessen Geburt er mit allen emotionalen Glücksmomenten und Vaterschaftsgefühlen miterlebt hat. Sein Sohn war geboren – der bedeutendste Fang seines Lebens. Kurz darauf bekam die Beziehung zu seiner Lebenspartnerin tiefe Risse. Verzweifelt kämpfte er um das junge Familienglück, das ihm wie ein kapitaler Lachs von der Leine zu springen drohte. Aus dem Kampf wurde Verbitterung. Ein zermürbender Kleinkrieg um Gefühle, Finanzen und Besuchsrechte begann. Immer mehr distanzierte sich seine Ex-Partnerin von ihm und gab ihm mehr und mehr zu verstehen, nur noch Geldmaschine und Samenspender gewesen zu sein.
„Du gewinnst zwar den Prozess, verlierst jedoch dein Kind und die Beziehung sowieso“
Unweigerlich kommt mir Hermann Hesses Romanfigur Siddhartha in Sinn, dessen Mentor und Fährmann Vasudeva ihm sagte: „Du wirst lernen. Er weiß alles, der Fluss, alles kann man von ihm lernen. Sieh, auch das hast du schon vom Wasser gelernt, dass es gut ist nach unten zu streben, zu sinken, die Tiefe zu suchen“. Phil spürt, dass etwas nicht stimmt und besinnt sich auf eine seiner Stärken; Zu beobachten – ganze zwei Jahre lang. Erste Zweifel entstanden und ein Verdacht erhärtete sich. Kann es sein, dass mein Sohn gar nicht mein Sohn ist? „Das war eines der heftigsten Gefühle, die ich je erlebt habe und mich grausam auf den Boden gedrückt hat. Und das schlimmste war, dass man in unserem Rechtssystem, bei einer Vaterschaftsklage, sein eigenes Kind anklagen muss – nicht die Mutter“. Seine Gefühle und Beobachtungsgabe täuschten ihn nicht. „Du gewinnst zwar den Prozess, verlierst jedoch dein Kind und die Beziehung sowieso“.
Neu-Orientierung
Das Leben in Zürich nahm weiter seinen Lauf und der Frust in Phil stieg weiter an. Nicht nur die zerbrochene Familiengeschichte beschäftigte ihn. Zunehmend nagte auch die Grossstadt und alle damit verbundenen Begleiterscheinungen der dynamischen Leistungsgesellschaft an seinem inneren Glückwohlsein. Zürich kann manchmal ganz schön brutal fordernd sein. An jeder Ecke muss man sich rechtfertigen, welche hippe Ereignis man verpasst haben könnte, welchen Trend man vielleicht verschlafen hat oder ob denn das vegane Kochbuch auch schon bestellt ist. Steckt man zudem in einer emotionalen Sackgasse, kommt einem vielleicht schneller der Gedanke, etwas ändern zu müssen. Und so war es auch bei Phil. Anfänglich waren da viele Ideen. Hauptsache weg von Zürich. „Ich könnte mir sehr gut vorstellen, zum Beispiel im Engadin zu wohnen. Dort oben ist alles etwas geerdeter und weniger hektisch“. Er hatte auch konkrete Plänen, für eine Saison auf die Alp zu ziehen und Käse zu machen. Doch dies schien ihm alles mehr eine Flucht als ein konkretes Konzept zu sein. Zu wenig Substanz, zu wenig „das grosse Ganze“.
„Es geht mir sehr gut – alles ist gepackt und im Container verstaut“
An einem regnerischen Sonntagmorgen im Frühling trifft er sich seit langem mal wieder mit seinem alten Fischerkumpel Marcel. Fischerkumpel ist vielleicht etwas zu viel gesagt – man kennt sich vom Fischen und kumpelhaft ist bei Marcel ebenfalls etwas weit gegriffen. Denn Marcel ist in erster Linie Geschäftsmann. Durch und durch.
Er ist gebürtiger Österreicher, lebt aber seit 35 Jahren in Kanada und betreibt dort mit anderen Partnern zusammen eine florierende Fischerlodge an einem der spannendsten Fischgebiete Kanadas – dem Skeena-River. In die Fischerlodge kommen in erster Linie reiche Touristen aus aller Welt, die das nötige Kleingeld besitzen, ebenfalls vom Fischervirus besessen sind und einmal in ihrem Leben erleben möchten, wie es sich anfühlt, wenn man sich mit seinem ganzen Körpergewicht in die Angelroute hängen muss, um einen Lachs an Land zu ziehen, der die Grösse einer kleinen Kuh hat und mit der Gewalt eines rückwärts fahrenden VW-Busses alles daran setzt, im Wasser zu bleiben und an der nächsten Flussmündung wieder zu verschwinden. Wenn Phil vom Skeena-River erzählt, kommt er unweigerlich ins Schwärmen. Es muss das Valhalla der Fischer sein. Bis oben voll mit Lachsen, Steelhead-Forellen und vielen weiterem schuppigen Spielzeug, welche jedem Fischer im Flachland das Tränenwasser in die feuchten Augen treibt. Auf einer Einzugsfläche so gross wie die Schweiz, formt sich der Fluss auf einer Länge von 579 Kilometern seine Bahnen durch die malerische Landschaft Kanadas. Phil war bereits in der Vergangenheit einige male hier und hat beste Erinnerungen an jene Tage.
Aufbruch in neue Welten
Es braucht nicht viel, um Phil davon zu begeistern, als Marcel ihm von seinen Plänen erzählt, einen neuen Partner und Nachfolger für dieses schöne Fleckchen Erde zu suchen.
„Es geht mir sehr gut – alles ist gepackt und im Container verstaut“, antwortet mir Phil auf meine erste Frage, wie es ihm denn nun gehe. Die Wohnung ist aufgelöst, das Auto verkauft und am Einwohneramt hat er sich abgemeldet. Am Montag wird Phil seinen Traum verwirklichen. Er wird in den Flieger steigen und zum Skeena-River aufbrechen. Das Gespräch mit Marcel hat ihm die Augen geöffnet und eine Perspektive aufgezeigt.
Er wird als Partner und Guide in der Fischerlodge einsteigen. Einige Punkte sind zwar noch nicht restlos geklärt, „aber ich geniesse den momentanen Luxus, noch nicht genau zu wissen, wie es mit mir in einem Jahr weitergehen wird und wo ich dann stehen werde“. Marcel hat ihm die Partnerschaft in der Lodge angeboten – sein Nachfolger soll er werden und künftig die Kunden der Lodge auf ihren feuchten Abenteuern begleiten.
Harte Landung und zurück zu den Wurzeln
Drei Monate später erhalte ich einen überraschenden Anruf von Phil. „Ich bin im Fall wieder hier in der Schweiz – kannst mich aus dem Buch streichen. Der Traum ist geplatzt. Es hat nicht funktioniert dort oben“. Bereits nach kurzer Zeit hat sich herausgestellt, dass die Rahmenbedingungen schwieriger waren, als er sich das zu Beginn seiner Odyssee vorgestellt hat. Was auch immer ihn zur Umkehr bewogen hat – das möchte er mir dann später mal bei einem Bier genauer erzählen.
Die Geschichte wurde jedoch nicht aus dem Buch gestrichen und sie wäre nicht fertig, wenn Phil schlussendlich nicht doch noch seinen Traum verwirklicht hätte. Er blieb nach seiner Rückkehr nur kurz in Zürich. Heute wohnt er im Engadin, im kleinen Bergdorf S-chanf und arbeitet in einem kleinen Architekturbüro in Chur. Direkt vor seinem neu renovierten Holzhaus fliesst der Inn – für ihn einer der schönsten Fischgewässer der Schweiz. „So viele Forellen wie dieses Jahr habe ich noch nie rausgeholt“, meint er fast schon melancholisch und ich frage mich, ob er manchmal dort unten am Ufer sitzt – neben ihm Siddhartha und der Fährmann Vasudeva, die ihm auf die Schulter klopfen und ihm zustimmen: „Er weiß alles, der Fluss, alles kann man von ihm lernen. Sieh, auch das hast du schon vom Wasser gelernt, dass es gut ist nach unten zu streben, zu sinken, die Tiefe zu suchen“.
Text & Bilder: Markus Mallaun